Auch wer zu spät kommt, kann dem Vatersein nicht entkommen.
Angeln kann so be(un)ruhigend sein

Wir schreiben das Jahr 1978, genau gesagt den 23. September. 0 Sonnenstunden, aber trocken, gefühlte Temperatur, 13 Grad. Beste Zeit für Aktivitäten an der frischen Luft. Die einen fahren Fahrrad und essen im anliegenden Kaffee ein leckeres Eis mit doppelter Sahne und einem Schuss Eierlikör (ja, auch das gab es damals schon in der DDR). Die anderen angeln und denken dabei über ihren kommenden, größten Fang ihres Lebens nach, philosophieren mit Freunden über dies und das und genießen die Ruhe am See.

Andere wiederum liegen genau an diesem Tag, in dieser Minute im Kreißsaal. Nicht auszumalen, worüber diese Frauen sich gerade den Kopf zerbrechen. Wobei (zer)brechen in diesem Zusammenhang vielleicht das falsche, unpassende Wort ist. Ich frage mich gerade selbst, worüber ich in dem Moment nachdenken würde. Vielleicht „Ist das alles nur ein Traum?“ oder „Das ist das erste und das letzte Kind“ oder vielleicht „Wie lange dauert es noch, bis ich endlich wieder schlank bin?“

Meiner Mutter gingen da eher andere Gedanken durch den Kopf. Sie hat sich wahrscheinlich nur gefragt „Wann kommt denn nun endlich mein Mann, hält mir die Hand und steht mit mir das Gebären unseres Wunschkindes gemeinsam durch?“…

Und schon sind wir wieder bei meinem ersten Absatz und dem Thema „mein größter Fang“, denn mein Vater war gemeinsam mit seinen Freunden beim Angeln und genau da lag das Problem.

Social Media, WhatsApp und auch das so lieb gewonnene Smartphone gab es damals nicht. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, aber in manchen Situationen wäre diese Technik von heute auch damals schon ganz praktisch gewesen. Ein kurzer Anruf oder eine Sprachnachricht und mein Daddy hätte seine gefangenen Fische sofort ins Wasser geschmissen (inklusive der Angelrute) und hätte sich mit Tempo 100 in den Kreißsaal nach Leisnig, meiner Geburtsstadt begeben. Aber ohne die Möglichkeit der Kontaktaufnahme wusste mein Vater natürlich nicht, in welch brenzlicher Geburtsposition, umringt von Schwestern, meine Mutter in diesem Moment war. Also hieß es für ihn ohne schlechtes Gewissen „Rute auswerfen und Fische fangen“.

Aber auch der schönste Angeltag geht irgendwann mal zu Ende. Zu Hause angekommen begab sich mein Vater an die Wählscheibe unseres Telefonapparates (heute würde man Festnetztelefon oder auch Mobiltelefon sagen) und wählte die damalige Vorwahl 0940391 für Leisnig und dann die Telefonnummer für die Entbindungsstation. Eigentlich nur, um zu fragen, ob alles ok ist. Die diensthabende Schwester aber überbrachte eine ganz andere Nachricht, und zwar „Herzlichen Glückwunsch, sie sind Vater eines gesunden Kindes“. Überrascht, aber dennoch glücklich (hoffentlich) nahm mein Vater das, nicht ganz so geplante Statement, entgegen und wollte sich direkt zu seiner Frau und seinem Sohn auf den Weg ins „Krankenhaus“ begeben. Aber auch hier erhielt er eine zu dieser Zeit normale Antwort „heute ist die Besuchszeit leider vorbei, kommen Sie bitte morgen“.

So ein bisschen hoffe ich ja, dass seine Nacht mindestens genauso unruhig war, wie die meiner Mutter. Vielleicht hatte er aber auch die letzte, ruhige Nacht seines Lebens für eine sehr lange Zeit.

Die Moral von der Geschichte: Auch wer zu spät kommt, kann dem Vatersein nicht entkommen.

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